Osterbotschaft von Stephan Ackermann, Bischof von Tier

Osternacht, 9. April 2023

Die biblischen Erzählungen der Osternacht lieben starke Kontraste. Es beginnt schon beim Schöpfungsbericht der Genesis: Da ist die Rede von Licht und Finsternis, von Abend und Morgen, von Wasser und trockenem Land, von Himmel und Erde, von den Fischen tief im Meer und den Vögeln hoch in der Luft, von männlich und weiblich … Diese Sprache der Kontraste in der Schöpfung setzt sich fort in der Geschichte des Volkes Israel. Wir haben es aus dem Buch Exodus gehört: Da geht es um die Unterscheidung zwischen einem Leben in Sklaverei oder in Freiheit. Oder denken wir an die Lesung aus dem Propheten Ezechiel, der darüber klagt, dass das Volk immer wieder schwankt zwischen Heiligkeit und Sünde. Sie seien Menschen, die ein Herz aus Stein haben statt einem Herzen aus Fleisch. Immer wieder Kontraste, klare Pole. Und schließlich und durch alles hindurch geht es letztlich um die Frage von Leben und Tod. Davon sprechen die Schrifttexte aus dem Neuen Testament.

Von dieser klaren, kontrastreichen Sprache geht eine Faszination aus, weil in unserem Alltag in Politik und Gesellschaft, in der Kirche, in unserem privaten Leben … die Dinge oft so unübersichtlich und verworren sind. Wir wünschten uns, dass die Alternativen klarer wären, dass hell und dunkel, richtig und falsch so deutlich vor uns stünden, wie es in dieser Nacht beschrieben wird. Dann täten wir uns leichter, eine klare Entscheidung zu treffen. In der Regel ist es aber anders. Nicht wenigen Menschen fällt es schwer, die Unübersichtlichkeit und Komplexität unseres Lebens auszuhalten. Sie wünschen sich klare und einfache Lösungen zwischen richtig und falsch, zwischen schwarz und weiß … Dann droht die Gefahr von fundamentalistischen Antworten, zu denen sich Menschen bisweilen auch auf die Bibel und den Glauben berufen. Ist das der Sinn der Erzählungen dieser Nacht? Leistet die Bibel schematischen, gar radikalen Antworten Vorschub, wenn sie so spricht, wie wir es in dieser Nacht hören?

Tatsächlich redet die Bibel gerne in gegensätzlichen Begriffen, benutzt kontrastreiche Bilder, zeichnet Polaritäten, um zur Entscheidung zu rufen. Sie tut dies aber nicht nur, um zur Entscheidung aufzurufen. Sehr oft tut sie dies, um die ganze Weite der Schöpfung und des Lebens abzubilden. In diesem Sinn spricht sie von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht, von Himmel und Erde, von Leben und Tod … Bischöfliches Generalvikariat, Bereich Kommunikation und Medien (SB 3), Postfach 1340 | 54203 Trier, Telefon 0651 7105-0, bistum-trier@bistum-trier.de Die Menschen der Bibel wussten sehr wohl, dass es nicht nur Tag und Nacht gibt, nicht nur die extremen Pole, sondern auch die Bereiche dazwischen: die Morgendämmerung und das Abendrot. Sie wussten sehr wohl, dass es nicht nur das Meer und das Land gibt, sondern auch den Übergangsstreifen der Küste. Die Menschen der Bibel kannten die Übergänge zwischen den Extremen und die vielen Facetten, die dazwischen liegen. Die Hl. Schrift denkt nicht in einem primitiven Entweder-Oder, kennt nicht nur ein „Das“ oder „Das“, sondern sie weiß um den ungeheuren Spannungsbogen, der sich zwischen den Polen auftut: Da ist die ganze Vielfalt der Schöpfung mit all ihren Schattierungen. Ich glaube, liebe Schwestern und Brüder, dass man dies übrigens auch im Blick auf die Polarität der Geschlechter so verstehen darf: Die biblischen Autoren sprechen davon, dass Gott den Menschen „männlich“ und „weiblich“ erschaffen hat. Auch wenn sie es nicht ausdrücklich sagen, so werden die Menschen der Bibel mit ihrer Erfahrung darum gewusst haben, dass es geschlechtliche Identitäten und Orientierungen gibt, die sich nicht eindeutig dem einen oder dem anderen Pol zuordnen lassen. Darüber hinaus gibt es in der Geschichte der Menschen und Völker unzählige Situationen, die sich nicht schematisch einordnen lassen, und die uns in unserem Urteil behutsam sein lassen sollten. So vielfältig wie die Schöpfung sind auch die Vielfalt und die Komplexität der Lebenssituationen.

„Aber woher nehmen wir dann die Kriterien der Unterscheidung?“, so könnten Sie mit Recht fragen, liebe Schwestern und Brüder. Verlieren wir nicht gänzlich die Orientierung, die doch der biblische Glaube geben will? Die Antwort darauf gibt uns Paulus in der Lesung aus dem Römerbrief. Ausgerechnet Paulus, der vorher ein fanatischer Pharisäer war, der genau wusste, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was richtig und falsch, was gottgefällig und gotteslästerlich ist, was zu schützen und was zu bekämpfen ist. Paulus hat seine persönliche Ostererfahrung auf dem Weg von Damaskus gemacht, als ihm der Auferstandene in den Weg getreten ist. Das hat ihn regelrecht umgehauen. Da war ein Licht, das alles, was er bisher kannte, in den Schatten gestellt hat. Die Erfahrung des lebendigen Christus hat ihn bekehrt und ihm die Augen geöffnet. (Apg 9,1-9; Gal 1,13-16) Nach seiner Bekehrung ist für Paulus klar: Die eigentlichen Grenzlinien verlaufen nicht mehr zwischen Tag und Nacht, zwischen Himmel und Erde, zwischen Heiligen und Sündern, sondern zwischen einem Leben mit Jesus Christus und einem Leben ohne ihn. Das Leben mit Christus relativiert sogar die absolute Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Wir haben es in der Lesung aus dem Römerbrief gehört: Sind wir mit Christus gestorben (damit meint Paulus: Sind wir auf Christus getauft worden), so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. Wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod hat keine Macht mehr über ihn. (Röm 6,8f) Die Zugehörigkeit zu Christus, die Verbundenheit mit ihm, sie ändert alles, davon ist Paulus überzeugt. Deshalb sagt er an anderer Stelle: „Früher haben wir alles nur nach menschlichen Maßstäben eingeschätzt, jetzt aber wollen wir niemand mehr nur nach menschlichen Maßstäben einschätzen“ (2 Kor 5,16). Denn nun gibt Christus den Maßstab für alles. Dieser Maßstab ist ganz göttlich und ganz menschlich zugleich. Er macht das Denken und das Herz nicht eng, sondern gibt Klarheit und Weite und Freiheit zugleich. Das Osterfest lädt uns ein, unser Leben noch bewusster aus der lebendigen Verbundenheit mit Jesus Christus heraus zu leben und an ihm Maß zu nehmen.