
Jes 52,7-10/ Hebr 1,1-6/ Joh 1,1-18
1. Mit dem Hochamt am 1. Weihnachtstag verbinden wir den Beginn des Johannesevangeliums. Er gehört zu diesem Gottesdienst einfach dazu. Er darf nicht fehlen. Aber ebenso fest gehört dazu auch die erste Lesung aus dem Propheten Jesaja, die wir ebenfalls schon zigmal gehört haben, die aber immer irgendwie im Schatten des gewaltigen Johannesprologs steht. In diesem Jahr möchte ich in der Predigt einmal intensiver auf diese Lesung schauen. Denn sie hat mich in der Vorbereitung mehr als früher nachdenklich gemacht. Das hängt natürlich zusammen mit den Nachrichten und Bildern, die wir seit Monaten tagtäglich aus der Ukraine hören und sehen.
Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Heil verheißt, so ruft Jesaja aus. – Mein Gott, wie sehr würde man eine solche Nachricht begrüßen! Dass es endlich ein Einsehen des russischen Aggressors gäbe und Friedensverhandlungen (wenigstens die!) beginnen könnten. Nehmen wir auch noch den anderen Ausruf des Propheten hinzu, in dem es heißt: Brecht in Jubel aus, jauchzt zusammen, ihr Trümmer Jerusalems! Denn der Herr hat sein Volk getröstet, er hat Jerusalem erlöst. – Wie sehr würde man sich wünschen, dass die Trümmerstädte von Mariupol, von Cherson, von Odessa … zusammenjauchzen könnten. Aber dieser Wunsch bleibt einstweilen
Zukunftsvision, auf deren Verwirklichung wir für das Jahr 2023 hoffen und für die wir beten.
2. Liebe Schwestern und Brüder, wie war das eigentlich damals zu der Zeit, als der Prophet Jesaja diese Verse verfasst hat? Vermutlich sind seine Zeilen um das Jahr 530 v. Chr. entstanden. Damals befand sich Israel schon mehr als 40 Jahre im Exil in Babylon. In der Heimat war alles zerstört, selbst die stolze Stadt Jerusalem samt ihrem Tempel. Das war besonders schmerzlich,
war doch der Tempel die Garantie für Gottes Gegenwart in seinem Volk.
Doch nun bahnt sich eine Wende an: Die Babylonier verlieren an Macht, und ein neues Volk steigt auf, die Perser, unter ihrem König Kyros. Der verfolgt eine andere Politik, gesteht den unterjochten Völkern wieder eine größere Eigenständigkeit zu. Damit öffnet sich für die verschleppten Juden der Weg in die Freiheit und die Heimat. Sie können zurückkehren und den Tempel und die Stadt wieder aufbauen. Mehr noch: Gott kann in ihrem Glauben zurückkehren nach Jerusalem. Aber die Rückkehr geschieht nicht so triumphal, wie sich das bei Jesaja anhört. Nicht wenige der Exilierten haben sich über die Jahrzehnte in der Fremde eingerichtet. Vielen fehlt der Mut und der Schwung zum Aufbruch.
3. Ist also das, was Jesaja beschreibt, bloß ein schöner Traum, den es so nie gegeben hat? Ja und Nein. Denn die Deportierten sind ja tatsächlich heimgekehrt. Der Tempel wurde wieder aufgebaut und zum Ort der Gottesverehrung. Es ist der Tempel, den später Jesus gesehen und in dem er gebetet hat. Aber tatsächlich war die Rückkehr nach Jerusalem historisch gesehen eher glanzlos. Rückkehr und Wiederaufbau zogen sich hin, viele Schwierigkeiten und Widerstände waren zu überwinden.
Vielleicht kann man so sagen: Jesaja bringt mit seinen prophetischen und poetischen Worten die leuchtende Innenseite dessen zum Ausdruck, was sich äußerlich viel bescheidener und nüchterner abgespielt hat: Ja, die „Trümmer Jerusalems haben wieder zusammengefunden“. Der „Herr hat sein Volk getröstet“, hat „seinen heiligen Arm vor den Augen der Nationen entblößt“.
Gott hat seine Macht gezeigt, aber er hat sie anders gezeigt als man dies beim ersten Hören denken würde.
4. Gilt das, liebe Schwestern und Brüder, nicht ganz ähnlich auch für die biblischen Texte von Weihnachten? Die Texte, die wir in diesen Tagen hören, begnügen sich nicht damit, die rein äußeren Geschehnisse zu beschreiben. Denn diese sind streng genommen ärmlich, unspektakulär. Für das, was Maria und Josef rein menschlich gesehen durchmachen (eine junge Familie ohne festes Zuhause, auf der Flucht …), finden sich bis heute ungezählte ähnliche Beispiele. Da ist nicht so viel Besonderes. Umso wichtiger ist es, dass die biblischen Texte, nicht an der Oberfläche der Ereignisse bleiben, sondern ihren inneren Gehalt in Worte fassen. Die biblischen Erzählungen lenken unseren Blick auf die geheimnisvollen Tiefenschichten, in denen Gott am Werk ist. Am deutlichsten wird dies bei Johannes, der in seinem Evangelium von den eigentlichen Umständen der Geburt Jesu überhaupt nichts berichtet. Er beschreibt allein die innere
Wirklichkeit des Kindes von Bethlehem als Gottes fleischgewordenes Wort, voll Gnade und Wahrheit und Herrlichkeit. Damit wird die Wichtigkeit einer redlichen Geschichtsschreibung nicht infrage gestellt, aber wir spüren – gerade wenn es um die Wirklichkeit des Glaubens geht, dass die Beschreibung äußerer Fakten zu kurz greifen würde. Sie stößt bis zum eigentlichen Geheimnis nicht vor.
Deshalb brauchen wir Texte, die uns die Augen öffnen für die tiefer liegenden Schichten der Wirklichkeit. Deshalb brauchen wir Texte, die den Mund (menschlich gesehen) zu vollnehmen.
Deshalb brauchen wir Prophetie und Poesie, brauchen den Überschwang der Musik, brauchen Symbolik und gottesdienstliche Feier.
Wenn wir offen sind für diese Dinge, dann öffnen sie uns die Augen für die verborgenen Seiten der Wirklichkeit – nicht nur in den Ereignissen, die uns die Bibel bezeugt, sondern auch in unserem eigenen Leben.
5. Der Dichter Franz Kafka hat das einmal so beschrieben: Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit.
Aber sie liegt dort nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Oder weihnachtlich ausgedrückt: Dies schönste der menschlichen Kinder ist Gott, in die Menschheit gehüllt; es weiht sich zum Mittler der Sünder, von himmlischer Liebe erfüllt. Dies große Geheimnis erklären die Engel den Hirten im Feld. Sie singen dem Schöpfer zu Ehren, sie singen vom Frieden der Welt. Frohe Weihnachten!